Zurück in die Zukunft

Warum wir in die falsche Richtung gehen, wenn wir meinen, vorwärts stürmen zu müssen

Es ist uns so tief eingeprägt, dass wir es uns gar nicht anders vorstellen können: Die Zukunft liegt vor uns und die Vergangenheit hinter uns. Der Zeitpfeil fliegt weg von uns, und wir hasten ihm hinterher. Die nähere Zukunft können wir gerade noch sehen, doch was weiter folgt, verschwindet hinter dem Horizont. Das ist auch gut so, denn es könnte uns ängstigen. Dies umso mehr, als es unsere einzige Gewissheit ist, dass irgendwo dort in der (hoffentlich noch weiten) Ferne der Tod auf uns wartet. Der Zeitpfeil wird sich zum Boden hin senken und uns selbst treffen. Wir werden ihn eingeholt haben, und damit wird unsere Lebenszeit unweigerlich zu Ende gehen. Mehr oder weniger so sieht das raumzeitliche Lebenskonzept eines modernen westlichen Menschen aus.

 

Doch muss das Leben ein Dauerlauf sein, dessen Ziel wir eigentlich gar nicht erreichen wollen?

 

Ein Grund für diese frustrierende Situation ist, dass der zyklische Aspekt von Zeit gegenüber dem linearen ins Hintertreffen geraten ist. Wir nehmen zwar den Wechsel der Jahreszeiten mehr oder weniger deutlich wahr, doch ist auch dies hauptsächlich auf unser Vorwärtseilen und – Altern bezogen. Wir feiern Geburtstage und machen uns vor, sie seien ein freudiges Ereignis. Dabei zählen wir ängstlich die Jahre und mögen es gar nicht, dass wir schon wieder älter geworden sind.


Auch andere Feiertage strukturieren nach wie vor das (Arbeits-)Jahr, doch sind sie längst abgekoppelt von den solaren Festtagen, den Sonnenwenden und Tagundnachtgleichen, die uns an unsere Einbindung in die große kosmische Ordnung erinnern würden. Und auf die kleineren Zyklen des Mondes, die uns zu einer Lebensweise in rhythmischem Wechsel zwischen Verinnerlichung und Veräußerlichung einladen würden, geben nur die wenigsten acht. Wenn der Mond überhaupt eine Rolle spielt, dann meistens unter dem Nützlichkeitsaspekt, zum Beispiel um den günstigsten Zeitpunkt für den Friseurtermin zu bestimmen.


Bewusstes Leben von Zyklen gibt Sicherheit


Es ist sicher wahr, dass Menschen in Kulturen, die das Zyklische von Zeit in den Vordergrund stellen, ein geruhsameres Leben führen, weil sie das Zyklische ihre Zugehörigkeit zur Schöpfung als Ganzer spüren lässt. Das gibt ihnen das Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit, denn sie erleben sich als eingebettet in eine lebensspendende, heilbringende Ordnung, in der ihr eigener Tod nur der Beginn eines neuen Zyklus der Seelenentfaltung ist. 

Die Annahme, dass diese Menschen gar keine lineare Zeiterfahrung hätten, ist jedoch unsinnig. Genau wie wir erleben sie Veränderungen in sich selbst und in ihrer Lebenswelt, die nicht zyklischer, sondern fortschreitender Natur sind. Unumkehrbare Veränderungen in Form von Wachstum und Gestaltwandel, aber natürlich auch Abnutzung beziehungsweise Alterung sind auch ihnen allgegenwärtig. Der Unterschied ist jedoch, dass diese von ihnen wiederum als Phasen in größeren zyklischen Abläufen begriffen werden.


Gegenwart kann unterschiedliche Bedeutung haben


Auch Vergangenheit und Zukunft sind selbstverständlich vertraute Konzepte für diese Menschen, doch verstehen sie, die Gegenwart als Bindeglied zwischen beiden zu leben und es zu unterlassen, ständig zu berechnen, wie viel Lebenszeit schon vergangen ist und wie viel ihnen noch bleibt. Tatsächlich ist es häufig so, dass sie ihr Alter gar nicht wissen, weil niemand ihr Geburtsdatum festgehalten hat. Wenn man zusätzlich noch nicht einmal die Gelegenheit hat, sich täglich im Spiegel zu betrachten, ist das Alter eines Menschen eine Frage der persönlichen inneren Empfindung und kein von außen überprüfbares Faktum.


Im Gegensatz zu einer solchen Lebenseinstellung kann man die Gegenwart allerdings auch als Mittel dazu gebrauchen, Vergangenheit und Zukunft zu vergessen. Dann fängt man an, sich sinnlos um der Beschäftigung willen zu beschäftigen und nach geistloser Unterhaltung zu suchen, um sich davon abzulenken, wovor man Angst hat.

Angst bezieht sich generell auf die Zukunft, speist sich aber aus Erfahrungen aus der Vergangenheit, sowohl eigene als auch kollektive. Sind Vergangenheit und Zukunft jedoch gegenwärtig, dann befindet man sich tatsächlich vollkommen im Hier und Jetzt, und es gibt nichts zu fürchten. Was man durch Mythen und eigene Erfahrungen aus der Vergangenheit gelernt hat, wirkt mit der Anziehungskraft einer geteilten Zukunftsvision zusammen und gibt im gegenwärtigen Augenblick Mut sprich Beherztheit.


Was ist vorne und was hinten?


In diesem Zusammenhang ist es höchst interessant, dass die eingangs beschriebene räumliche Metapher für Vergangenheit und Zukunft nicht in allen Kulturen dieselbe ist. In den Anden  ist beispielsweise die Vorstellung verbreitet, dass die Vergangenheit vor uns liegt und die Gegenwart hinter uns.  

Im ersten Moment war ich vollkommen verblüfft, als ich davon hörte. Doch die Erklärung, die mir dafür gegeben wurde, war überzeugend: Niemand kann die Zukunft sehen, also liegt sie hinter uns. Hingegen können wir die Vergangenheit zumindest ein Stück weit noch sehen, denn wir haben sie ja bereits erlebt. Die Frage ist nun, wie sich diese Vorstellung darauf auswirkt, wie man sich der Zukunft nähert!

Probieren wir es aus!

Ein einfaches Experiment, das ich die Leser/innen einlade, selbst auszuführen, gibt einiges an Aufschluss darüber: Wenn ich irgendwo im Freien ein Stück weit gehe und dann an einer Stelle stehenbleibe und mich umdrehe, kann ich die unmittelbare Vergangenheit (woher ich gerade gekommen bin) sehen. Die Zukunft ist jetzt hinter mir, also muss ich rückwärts auf sie zu gehen. In dieser Situation werde ich mich sicherlich mit vorsichtig tastenden Schritten auf den Weg machen, denn ich weiß ja nicht, wie der Boden beschaffen ist und auf welche Hindernisse ich stoßen werde. Auf keinen Fall werde ich die Erfahrung machen, dass mein weiterer Lebensweg ein Wettlauf mit der Zeit ist. Mein Blick richtet sich nach wie vor nach vorne, auf mein Lernen aus der Vergangenheit, das mich stärkt. Das lässt mein Herz mutig werden, so dass es den liebenden Willen für diesen ungewissen Weiterweg aufbringt.


Doch wo ist die Zukunftsvision? 


Wenn ich weiß, dass irgendwo die Zukunft der Vergangenheit begegnen wird, meine Bestimmung meinem Ursprung, und dass beide zusammen einen großen Zyklus bilden, dann kann ich die große Vision als sprichwörtlichen Silberstreif am Horizont schimmern sehen. Das gibt meinen Schritten umso mehr Sicherheit, denn nun weiß ich, dass mich kein Hindernis abhalten wird, dass ich nur geduldig denjenigen Weg suchen muss, der mich dieser Vision näherbringt. Entsprechend werde ich wählen, wenn ich mich für die eine oder andere Möglichkeit des Weitergehens entscheiden muss. Zum Beispiel kann ich über einen Baumstumpf oder einen größeren Stein steigen oder um ihn herum gehen, und das wiederum rechts oder links. Ich werde mich so aufmerksam fortbewegen müssen, dass ich ganz von selbst vollkommen gegenwärtig sein werde und stets in Kontakt mit dem, was vor und was hinter mir liegt.


Die Frage ist, in welche Richtung wir tatsächlich gehen 


Man könnte an dieser Stelle einwenden, dass wir im Allgemeinen jedoch nicht rückwärts, sondern vorwärts gehen. Das hieße, dass wir der Vergangenheit entgegengehen und nicht der Zukunft! Doch welchen Unterschied macht das, wenn beide ohnehin ineinandergreifen? Vielleicht könnte es ein Schlüssel für eine gute Zukunft sein, der Vergangenheit neu zu begegnen. Je weiter wir gehen, umso mehr Zukunft liegt dann hinter uns!


In jedem Fall, und das ist der springende Punkt, gibt es keinen Anlass dafür, zu hasten und doch nicht ankommen zu wollen. Als neue Pilger für eine lebenswerte Zukunft werden wir jeden Wegabschnitt nutzen, um Pachamama, der lebendigen Erde und Mutter der Raumzeit, von Herzen zu geben und damit die heilige Wechselseitigkeit wiederherzustellen, die uns ein erfülltes Leben in der verbundenen Gegenwart gibt.

 
Anmerkung In diesem Text habe ich der Lesbarkeit halber auf das Nennen der weiblichen und männlichen Form wie z.B. Pilger/in verzichtet. Selbstverständlich sind immer sowohl Frauen als auch Männer gemeint!

Fachbeitrag von Waltraud Hönes für “Spirit Online”, 2022

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