Geben, Gehen und Gedeihen
Die Metamorphose von Touristen in neue Pilger
„Endlich wieder unbeschwert reisen können“, denken sich viele. Nichts wie weg und für eine Zeitlang vergessen, was hinter uns liegt, ist die Devise. Doch wollen wir wirklich gleich weitermachen wie bisher, mit einer Art von Tourismus, die längst schon hätte in Frage gestellt werden müssen? Oder ihn sogar noch weiter auf die Spitze treiben, nur weil wir vor dem flüchten möchten, was aus unserem Leben geworden ist – und vor der Angst, wie es weitergehen wird? Brauchen wir noch mehr wasserverschwendende Wellness-Hotels, Verkehrsstaus, überlaufene Touristenziele und hochstilisierte Events? Und ist es tatsächlich eine verträglichere Alternative dazu, individuell zu reisen, vielleicht mit dem eigenen Camper zu kommen und weniger bekannte „Geheimtipp“-Orte aufzusuchen?
Was sollen wir also tun? Überhaupt nicht mehr reisen, nur um ja keinen ökologischen Schaden anzurichten? Das kann wohl kaum die Lösung sein, wenn wir auch andere Gesichtspunkte in die Waagschale werfen, seien es unsere nomadischen Wurzeln, der Wert von Begegnung mit anderen Kulturen und Menschen und nicht zuletzt sogar die Möglichkeit, der lebendigen Erde einen Dienst zu erweisen. Letzteres ist es, wofür „neue Pilger“ unterwegs sind. Es ist also nicht so, dass wir das Reisen an sich verdammen müssen, doch was sich ändern muss, ist die Art und Weise, wie wir es tun.
Geben
Rupert Sheldrake bringt es auf den Punkt mit seiner Aussage, dass der Tourismus in Pilgerschaft transformiert werden müsse, wenn wir die Heiligkeit der Erde wiederfinden wollen. Worin sich Pilger nämlich von Touristen unterscheiden, ist die Einstellung, mit der sie kommen: Pilger wollen dem besuchten Ort etwas bringen, während Touristen in erster Linie etwas für sich von dort mitnehmen wollen.
Nun kann man aber auch beim Pilgern sehr unterschiedliche Absichten haben. Gehen wir einmal davon aus, dass es nur noch wenige sind, die es als etwas Beschwerliches ansehen, das man auf sich nimmt, um Schuld abzubüßen. Die meisten heutigen Pilger werden hingegen die Erfahrung des Gehens schätzen und sich auf den Weg machen, weil sie persönliche Heilung suchen oder tiefer zu sich selbst finden wollen. Sie werden vielleicht auch Gaben an einen als heil-ig wahrgenommenen Ort bringen, weil sie es als angemessen empfinden, etwas zu geben, wenn man etwas für sich bekommen will. Bei dem, was ich unter dem „neuem Pilgern“ verstehe, ist es jedoch das eigentliche Motiv des Pilgerns, die Erde zu nähren und damit einen neuen Wind in die Welt hereinwehen zu lassen.
Es geht darum, ein Signal für eine Veränderung in unserer Beziehung mit der Erde zu setzen und ihr zu geben, weil wir viel zu lange nur von ihr genommen haben.
Weil wir damit einen eingeschlafenen wechselseitigen Austausch wieder in Gang bringen, werden wir natürlich auch etwas für uns selbst zurückbekommen, doch das ist nicht der Beweggrund für unser Pilgern. Was sicherlich beschenkt werden wird, ist unser umfassenderes Selbst, das sich als eingebunden in einen belebten Kosmos voll sichtbarer und unsichtbarer Wesen begreift. Wir werden Freude am Geben an sich spüren, unser Herz wird sich weiten und klären, und es wird uns die tiefe Befriedigung erfüllen, etwas zum Wohl der Erde, die uns nährt und erhält, beigetragen zu haben. Wir sind an einem Punkt angekommen, wo es angemessen erscheint, sie mit unseren Gaben um Verzeihung dafür zu bitten, was wir Menschen ihr angetan haben und immer noch antun. Es ist Zeit dafür, dass wir uns bemühen, die heilige Wechselseitigkeit zwischen ihr und uns wiederherzustellen.
Darin liegt die eigentliche Kraft dieses Gebens: Anstatt uns schuldig zu fühlen und uns klein und hilflos zu machen, kommen wir als aufrechte Menschen, die Verantwortung für die Versäumnisse ihrer Vorfahren, Mitmenschen und von sich selbst übernehmen. Wir machen uns mit liebendem Willen daran, die „rechte Beziehung“ wiederherzustellen und auf eine neue Ebene des Zusammen-Seins zu bringen.
Die Liebe ist es, die diese Gaben ungleich wertvoller macht als es auf den ersten Blick erscheinen mag.
Heilige Wechselseitigkeit lässt sich nie buchhalterisch aufrechnen und schon gar nicht in Geldwert erfassen. Noch so viele ökologische Maßnahmen (die zweifellos notwendig sind) können nicht ersetzen, was Gaben in Liebe bewirken können. Doch lässt sich das nur verstehen, wenn man Pachamama, Mutter Erde als lebendiges und beseeltes Wesen begreift. Wir haben nicht die geringste Ahnung davon, wie viel an Selbstregenerationskraft in ihr steckt und in welchem Umfang sie sich transformieren kann. Geben wir ihr Nahrung und stärken sie dafür, dann kann sie ihre Kräfte mobilisieren und sich von dem Schaden erholen, den wir ihr zugefügt haben. Wir sind darauf angewiesen, denn nur dann kann sie uns weiter die Lebensgrundlage geben. Soviel zum Geben.
Gehen
Kommen wir nun zum Gehen, das offensichtlich die Grundlage des Pilgerns ist. Es ist nicht nur das Mittel, um das angepeilte Ziel zu erreichen, sondern auch Zweck für sich selbst. Es ist Medizin für uns und die Erde, auf der wir uns bewegen. Gehen ist zutiefst menschlich; wir sind dazu gemacht, um zu gehen. Und dass wir es zu wenig tun, schadet uns nicht nur unserem Körper, sondern auch unserer Seele und entfernt uns immer weiter vom Geist.
Beim Pilgern, sowie ich es verstehe, gehen wir mit weichem, bedächtigem Schritt und streicheln Mutter Erde dabei liebevoll. All unsere Sinne sind wach und wir fühlen uns nach oben wie nach unten verbunden. Dadurch fällt uns wiederum das Gehen leichter und bereitet uns mehr Freude. Das ist der Nährboden, auf dem Liebe für die Wesen, denen wir begegnen, gedeiht. Denn es sind die Wesen einer Landschaft, mit denen wir bewusst in Kontakt treten. Es gibt nichts Lebloses in der Natur, auch Steine, Hügel, Berge, Flüsse sind lebendig. Öffnen wir uns dafür, dann zeigt sich die Beseeltheit von zauberhaften Orten, und wir beginnen, Heiligkeit zu empfinden.
Wir fügen uns in die Rhythmen der lebendigen Landschaft ein, in der wir uns bewegen, und werden so Teil von ihr.
Dabei befreien wir uns von dem quälenden Gefühl, uns als Eindringlinge zu fühlen und die Natur vor uns schützen zu müssen. Als Pilger kommen wir, um sie mit unserer Anwesenheit zu bereichern – was für ein anderes Lebensgefühl, aus dem heraus sich unser Verhalten gegenüber ihr ganz von selbst verändern wird!
Das Ziel unseres Gehens ist nicht nur ein bestimmter Steinschrein oder ein anderes von Menschen mitgestaltetes Heiligtum, wo wir die Erde mit unseren Gaben, Liedern, Worten und Gesten ehren, nein, wir werden mehr und mehr alles als heilig empfinden, was uns auf dem Weg begegnet. Und das ist die wesentliche Veränderung in unserem Bewusstsein, die uns anders als bisher mit der Erde umgehen lassen wird. Sie wird uns zu verzeihen bereit sein, wenn sie die Ehrfurcht und Liebe spürt, die sich einstellen, wenn wir etwas als heilig wahrnehmen.
Gedeihen
Wo Liebe gedeiht, fühlt sich die Seele wohl und kann sich ohne Angst entfalten. Gedeihen ist etwas anderes als wuchern. Es ist eine Art zu wachsen, die ein wohlgeformtes, harmonisches Wesen hervorbringt. Sie geschieht im Zusammenspiel mit menschlichen und nichtmenschlichen Mitwesen, ja wird erst möglich durch einen gelungenen Austausch mit ihnen.
Die Vorstellung von unbegrenztem Wachstum (zum Beispiel der Wirtschaft) auf Kosten anderer hat weit mehr mit Wuchern als mit Gedeihen zu tun. Beim Gehen, um zu geben, gedeiht ein ganz anderes Verständnis vom Menschsein, nämlich das, dass unser Wachstum zum Wohle von allen anderen beitragen soll, so dass wir zusammen eine verfeinerte, schönere, höher bewusste Daseinsform finden können. In diesem Sinne gibt es vielleicht wirklich keine Grenze des Wachstums, zumindest nicht, wenn man davon ausgeht, dass die unerschöpfliche göttliche Kreativität unendlich viele neue, höherdimensionale Welten hervorbringen kann.
Die Erde soll ein Ort des Gedeihens einer Gemeinschaft von Wesen sein.
Deswegen ist es so, dass hier, in dieser „mittleren“ Welt, oben und unten im Licht des mythischen unvergleichlich strahlenden Steins zusammenkommen sollen. So ist es in einem Kosmos, der aus Liebe geboren wurde, vorgesehen. Das neue Pilgern ist als eine Bewegung dorthin zu verstehen, und nicht als Rückzug von der Welt. Jede Gabe, jeder Schritt eines Pilgers kann dann zum Flügelschlag eines Schmetterlings werden, der den entscheidenden Windstoß auslöst, um die überholte Weltsicht der Trennung wie ein Kartenhaus zusammenfallen zu lassen. Ein solcher Schmetterling zu werden, ist Ziel der Metamorphose, die wir durchlaufen, wenn wir vom Touristen zum neuen Pilger werden.
Je mehr Menschen sich jetzt bewusst dafür entscheiden, diese Verwandlung zu vollziehen, umso schneller wird der entscheidende Flügelschlag näher rücken. Wenn wir gemeinsam gehen, umso mehr Kraft ist in unseren Gaben, umso mehr Liebe, die zusammenwirkt. Wir brauchen uns nicht in Massen bewegen; kleine Pilgergruppen, die Raum für persönliche wie gemeinsame Erfahrungen lassen, sind dem Gedeihen eines neuen Bündnisses von uns Menschen mit der lebendigen Erde am förderlichsten.
Nicht zuletzt können wir mit den genannten „3G“ des neuen Pilgerns die Lebensfreude wiederfinden, die uns abhandengekommen ist, und zwar dauerhaft. Denn dieses Pilgern wird zur Lebenseinstellung und kann zuhause weitergeführt werden, während ein herkömmlicher Urlaub schnell verblasst. Alle gewinnen also, Pachamama und wir selbst!
Anmerkung: In diesem Text habe ich der Lesbarkeit halber auf das Nennen der weiblichen und männlichen Form wie z.B. Pilger/in verzichtet. Selbstverständlich sind immer sowohl Frauen als auch Männer gemeint!
Fachbeitrag von Waltraud Hönes für “Spirit Online”, 2022