Gehe in Schönheit

„Gehe in Schönheit!“ Diesen oder einen ähnlich formulierten Wunsch hört man Angehörige von indigenen Kulturen oft aussprechen. Was für unsere Ohren vielleicht eigenartig klingt, ist alles andere als eine Floskel, sondern ein Hinweis auf eine Art und Weise, die Welt zu sehen, die uns leider verloren-gegangen ist. Jetzt wäre der Moment gekommen, um sich wieder darauf zu besinnen, wonach die menschliche Seele eigentlich sucht, nämlich nach Schönheit.


In unserer Gesellschaft ist zwar oft von Schönheit die Rede, doch aus einem sehr beschränkten Verständnis heraus. Unser Äußeres, Wohnungseinrichtung, der Privatgarten, ja, das soll alles schön sein. Doch wie schaut es in unserem weiteren Umkreis aus? Neu erschlossene Wohngebiete, Industrieanlagen, Straßenbauten, Schneisen für Skipisten, gezähmte Bäche, Forststraßen statt abwechslungsreichen schmalen Wegen, um einige zu nennen, nehmen wir für unseren „Wohlstand“ selbstverständlich in Kauf. Wir sind es gewöhnt, all das Unschöne auszuklammern, nicht zu viel hinzuschauen und uns hingegen in unsere kleine private Welt, die zu einem immer größeren Anteil eine virtuelle Welt wird, zurückzuziehen. Umso mehr jetzt, da wir in unserer Bewegungsfreiheit eingeschränkt sind.


Doch kommen wir zurück zur Schönheit. Wie könnte man sie definieren? Sie entzieht sich dem analytischen Verstand, denn sie gehört zur Welt der Seele. Diejenigen Menschen, die den oben genannten Gruß aussprechen, haben erkannt, dass Schönheit das höchste ordnende Prinzip der Schöpfung ist, und daraus leitet sich auch der ethische Grundsatz der heiligen Wechselseitigkeit ab, der für das Schaffen von Schönheit unerlässlich ist. In einer Kultur, die mit den Kräften der Schöpfung gestalten will, wäre also Schönheit das oberste Kriterium für alles, was von Menschenhand geschaffen wird. Allein dadurch würde sich unser Umgang mit der Erde und unseren Mitmenschen radikal verändern. Würden wir dann weiterhin alte, kranke und junge Menschen in großer Zahl auf engem Raum konzentrieren, wie wir es mit Altersheimen, Krankenhäusern und Schulen tun? Würden wir bezaubernde Orte in der Landschaft weiterhin niederplanieren und künstlichen Schnee erzeugen? Würden uns Massentierhaltung und Artenvernichtung auf überdüngten Wiesen angemessen erscheinen? Und wie wäre es mit Mobilfunkmasten, 5G und Zeitverschwendung durch Pseudokommunikation über elektronische Medien?

Die Beispiele sind zahllos und in allen Lebensbereichen zu finden, doch sie führen uns zu einer Schlussfolgerung: Eine Welt, die Ordnung durch Schönheit anstrebt, kann keine auf Profit basierenden Gesellschaftsordnung sein. Es ist offensichtlich: Immer dann, wenn Profit und wirtschaftliche Effizienz die Entscheidungskriterien sind, wird skrupellos Schönheit zerstört anstatt sie zu vermehren, und dann sind wir in einer seelenlosen Gesellschaft angekommen, in der Überkontrolle gut gedeiht. Welch vollkommen anderer Zugang wäre es, wenn ein Projekt danach beurteilt würde, ob es Schönheit vermehrt, anstatt auf Umweltverträglichkeit geprüft werden zu müssen?

Dazu müssen wir allerdings erst einmal unser Verständnis davon, was Schönheit wirklich ist, verändern. Wenn wir trennen, wird nie etwas Schönes entstehen können, denn wahre Schönheit entsteht nur dann, wenn das ganze Netz des Lebens einbezogen wird, d.h. wenn sich unsere Kreativität im Bewusstsein dieser komplexen, höheren Ordnung entfaltet und ihr dienen will. Wenn ich mich also elegant anziehe und in einer Designerwohnung wohne, es mir aber an Feingefühl der Erde und meinen Mitgeschöpfen gegenüber mangelt, werde ich niemals schön sein, sondern nur mir selbst und anderen eine Illusion vorzugaukeln versuchen.

 
Jetzt wäre es höchste Zeit, die Welt neu zu ordnen, als Menschheit, die sich dafür entscheidet, in Schönheit zu gehen. Wäre das nicht eine Vision für uns, gemeinsam mit der Erde?

Wir können alle sofort damit anfangen, indem wir selbst unsere Entscheidungen nach dem Kriterium der Schönheit treffen und uns dabei zusammentun, so wie wir Wayna Fanes es seit nunmehr 20 Jahren tun. So schaffen wir kleine Zentren, von denen diese neue Ordnung ausgeht, die jedoch keine isolierten Inseln sind, da Schönheit ja das ganze Weltgewebe mit einbezieht! Die Praxis des wechselseitigen Austausches mit den Wesen der Landschaft um uns herum, die ich in meinem Brief zum letzten Neumond beschrieben habe, ist ein wunderbares Beispiel dafür. Legen wir jetzt, an diesem Neumond, ein weiteres Samenkorn dazu, gehen wir in Schönheit!

 

Mit Munay*,

Waltraud Hönes

(Gründerin der Wayna Fanes- Tradition)

 

*Munay (Quechua): Bedingungslose Liebe, eigentlich: Liebender Wille

Newsletter "Neues aus Wayna Fanes" - Sonderausgabe April 2020

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