Warum wir eine mythische Vision für eine lebenswerte Zukunft brauchen

Warum wir eine mythische Vision für eine lebenswerte Zukunft brauchen

Menschen brauchen eine Geschichte, die ihnen erzählt, woher sie kommen, wohin sie gehen können und was die beste Lebensweise ist, um dorthin zu gelangen. Eine solche Geschichte nennt man einen Weltmythos. Haben wir keinen mehr, so sind die Folgen vielfältig und tiefgreifend. Sie reichen von einer allgemeinen Orientierungslosigkeit über einen Mangel an Zusammengehörigkeitsgefühl und Geborgenheit bis hin zu einem Verlust an Lebensfreude und Gleichgültigkeit. Einsamkeit und Depression, doch auch Gewalt in jeglicher Form gedeihen leicht auf einem solchen Nährboden.

In unserer westlichen Kultur können wir das Genannte tagtäglich beobachten. Wenn wir genau hinschauen, fühlen sich die meisten Menschen irgendwie haltlos und sind trotz materiellem Überfluss, Familie und Urlaub unzufrieden. Immer mehr macht sich Angst breit und führt zu einem lähmenden Sicherheitsdenken. Kein Wunder, dass wir Sinn und Wert unseres Da-Seins nicht wirklich finden können und in unseren Beziehungen unsicher sind.


Ein Weltmythos zeigt uns, was „rechte Beziehung“ auf allen Ebenen heißt.


Damit ist bereits gesagt, dass er nicht nur von den Beziehungen zu unseren Mitmenschen, sondern auch zu allen anderen Wesen einschließlich der Erde selbst, spricht. Wenn wir uns in ihrem Schoß nicht aufgehoben fühlen, können wir weder ihre Liebe spüren, noch unsererseits Liebe für sie empfinden. Alles Bemühen um Selbstfindung ist dann von vornherein zum Scheitern verurteilt, weil wir sprichwörtlich den Boden unter den Füßen verloren haben.

Als aufrechte und beseelte Menschen sollten wir eigentlich Mittler zwischen Himmel und Erde, Geist und Materie sein. Deshalb kann auch unsere Beziehung zum Himmel nicht stimmen, wenn die zur Erde gestört ist. Die Flucht ins Geistige wird uns nicht helfen, wenn wir uns hier, wo sich unsere Seele verkörpert hat, um zu wachsen, nicht zuhause fühlen und an diesem unstillbaren Hunger nach Liebe leiden.

Das ist der Status Quo in unserer Gesellschaft. Nur die wenigsten können sich noch ganz mit den Weltmythen der großen Religionen identifizieren. Diese haben allein schon deswegen viel von ihrer Kraft verloren, weil sie aufgeschrieben und damit für immer festgelegt worden sind. Das einzige, was sich noch ändern kann, sind die Interpretationen des Textes.


Mythen beruhen hingegen auf mündlicher Überlieferung und sind somit lebendig und wandelbar. Dadurch sind sie in der Lage, kulturelle Veränderungen zu integrieren und dennoch ihre universelle Gültigkeit zu bewahren.


Lange wurde uns eingeredet, dass wir keine Mythen mehr bräuchten und die uns bekannten religiösen Texte keinen mythischen Charakter hätten. Sie seien wörtlich, nicht metaphorisch zu verstehen und unumstößlich wahr im Sinne historischer Fakten. Aufgrund dieser Annahme beanspruchen manche Religionen auch, die einzige heilbringende Wahrheit zu besitzen und behaupten damit zugleich, dass alle anderen falsch lägen.

Doch hat die zunehmende Wissenschaftsgläubigkeit auch die scheinbar absoluten Wahrheiten so verstandener religiöser Texte in Frage gestellt. Das rationalistische Weltbild der Naturwissenschaft ist zur Ersatzreligion geworden, und – das kennen wir schon – zum einzig gültigen erhoben worden.


Doch kann die Wissenschaft einen Mythos ersetzen?


Als sie ihren Siegeszug antrat, dachten wir, dass wir nun endlich erfahren würden, was wirklich wahr ist und vergaßen dabei, dass wir als Menschen immer noch das wahrnehmende Subjekt sind. Und dieses wahrnehmende Subjekt hat eine Seele, die gar nicht so sauber-rational empfindet und agiert.

Erschüttert stellen wir auf einmal fest, dass die Wissenschaft doch nicht objektiv und keineswegs unbestechlich ist. Auch kann sie uns weder eine Vision noch eine befriedigende Antwort auf die Frage nach dem tieferen Sinn des Lebens geben. Sie vermag die Seele nicht wirklich zu berühren und ist wenig hilfreich dabei, das Herz heranzubilden. Und was die Sache mit der Wahrheit betrifft: Nur für den rationalen Verstand haben die Erkenntnisse der Wissenschaft einen höheren Wahrheitsgehalt als Mythen, nicht jedoch für die Seele.

Damit sei es nicht abgestritten, dass die Wissenschaft ein nützliches Instrument für uns sein kann, es heißt nur, ihren Gültigkeitsbereich und ihren ethischen Wert für unser Leben zu relativieren. Auch einige herausragende Wissenschaftler sind zu einem ähnlichen Schluss gekommen. James Gustav Speth ist einer davon, den ich hier zitieren möchte (Übersetzung von mir*):

„Ich habe lange gedacht, die brennendsten Umweltprobleme seien Verlust von Artenvielfalt, Zusammenbruch von Ökosystemen und Klimawandel. Ich dachte, mit 30 Jahren guter Wissenschaft könnten wir uns diesen Problemen widmen. Doch ich lag falsch: Die brennendsten Umweltprobleme sind Egoismus, Habgier und Gleichgültigkeit… und um diese zu bewältigen, brauchen wir eine spirituelle und kulturelle Transformation – und wir Wissenschaftler können das nicht leisten.“

Treffend gesagt. Und deshalb sind spirituelle Traditionen, die noch über lebendige Mythen verfügen, jetzt so wichtig für uns.


Die Seele hat immer schon gewusst, dass Wahrheit viele Gestalten annehmen kann. 


Deshalb können auch Weltmythen, die kulturell und landschaftlich bedingt unterschiedliche Gestalt annehmen, in ihrer Aussage übereinstimmen. Dies wird von den Menschen, die mit ihnen vertraut sind, erkannt, und daher können sie einander auf Seelenebene verstehen. Mythen einen uns Menschen, weil sie uns das Gefühl geben, auf einem gemeinsamen Weg zu sein.

Damit sei jedoch nicht gesagt, dass alle Weltmythen gleich sind. Je nachdem, welche Bewusstseinsebene sie erreicht haben, werden das Weltbild und die Vision, die sie uns vermitteln, mehr oder weniger dazu geeignet sein, uns aus dem fundamentalen Getrenntsein, das gegenwärtig unser Leben prägt, herauszuführen. Ein wesentlicher Aspekt dabei ist, ob sie die zentrale Stellung des Herzens für den nächsten seelischen Entwicklungsschritt der Menschheit ansprechen und die Bedeutung des göttlich Weiblichen in diesem Zusammenhang thematisieren. Der Heldenmythos kann es wohl nicht mehr sein!

Die Wissenschaft wird nie einen Weltmythos ersetzen können, weil Fakten und Informationen keine Werte vermitteln und die Seele nicht nähren können. Sie sucht nach jener Weisheit, die unseren wahren Wissensdurst befriedigt, weil sie auch das Herz berührt. Mythisch ausgedrückt, sehnt sie sich nach dem „unvergleichlich strahlenden Stein“, den wir alle auf dem Herzen tragen werden. Denn die „Rayeta“, wie das Juwel im Neuen Mythos von Fanes heißt, wird die Welt und uns selbst in jenem neuen Licht erscheinen lassen, das die Seelenblüte zu öffnen vermag.

Tauchen wir für einen Moment in die mythischen Bilder ein und stellen uns einen klaren Edelstein mit einer scheinbar unendlichen Zahl von Facetten vor, die sich vielfältig ineinander widerspiegeln. Die Brillanz, die von ihm ausgeht, übertrifft alles, was wir je gesehen haben. Zartes Hellblau schimmert durch ihn durch und um ihn herum. Auch gehen Strahlen in allen Farben des Regenbogens von dem Juwel aus und leuchten in es hinein. Das farbige Licht dieser Strahlen ist von Gold- und Silberglanz umgeben.


Mythische Sprache berührt uns in der Tiefe.


Wecken diese Bilder nicht eine uralte Erinnerung in unserer Seele? Und versteht sie nicht sofort, dass sie den Seinszustand beschreiben, nach dem sie sich so sehr sehnt?  Wie könnte man etwas, das prinzipiell noch unvorstellbar ist, treffender ausdrücken als über die metaphorische Sprache des Mythos! Die Leuchtkraft von höchster harmonischer Ordnung, ultimative Schönheit, solares und lunares Bewusstsein im Gleichgewicht, all unsere Seelenqualitäten in gleichem Maße entwickelt und nach innen wie außen wirkend: All das kommt hier zu Ausdruck. Und doch bleibt jeglicher Versuch, die Bedeutung der „Rayeta“ in rationale Sprache zu fassen, weit hinter der Aussagekraft der mythischen Bilder zurück.


Stellen wir uns weiter vor, wir säßen mit einigen anderen Menschen in einem Kreis zusammen und eine ältere Frau erzählte uns die Geschichte von diesem unvergleichlich strahlenden Stein, die zugleich die große Geschichte von der Welt ist.

Sehen wir uns fasziniert ihren Worten lauschen, die eine Fülle von eindrucksvollen inneren Bilder in uns hervorrufen würden. Gelegentlich würde sie die Erzählung mit Gesängen unterbrechen, die das Gehörte noch tiefer in die Seele einsickern ließen. Wir könnten unsere eigenen Verfehlungen in denen der mythischen Gestalten erkennen, ohne uns persönlich angegriffen zu fühlen. Von ihnen bekämen wir auch die Wege aufgezeigt, um sie zu überwinden und unser Herz zu klären, so dass es reif für die „Rayeta“ wird. Die sechs goldsilbernen farbigen Wege des kristallenen Herzens und der siebte hellblaue, ringförmige Weg des Wiederzusammenkommens mit unseren Mitwesen, sie würden uns viel mehr anziehen als die Irrwege der Vergangenheit.


Welch eine wunderbare Art, gemeinsam zu lernen und zu heilen, um mit unseren voll entfalteten Fähigkeiten die Welt in verantwortungsbewusster Weise mitgestalten zu können! Wir haben sie verloren, doch wir können sie wiederfinden.


Gemeint ist kein Weg zurück, sondern hin zu einem umfassenderen Da-Sein in Verbundenheit. 


So verstehe ich das neue Pilgern auf den sieben Regenbogenwegen, das ich in meinem zweiten Buch beschreibe. Es kann tatsächlich weltbewegend werden, wenn sich eine ausreichende Zahl von uns entscheidet aufzubrechen, um mit kristallklarem Herzen der „Rayeta“ entgegenzugehen.

Wir können den Mythos wieder lebendig machen, indem wir ihn leben und weitererzählen, so wie wir „Wayna Fanes“ („die jungen Fanes“) es schon seit über 20 Jahren im Dolomitengebiet tun. Seine Worte und Lieder klingen durch ein umfangreiches Netz aus bestens versorgten heiligen Orten und nähren die Weltseele von dieser phantastischen Landschaft aus.


Schon sehr bald könnte dieses Lichtnetz weit über sein Ursprungsgebiet hinauswachsen. Ich lade euch ein zu einer Wiederbegegnung mit der lebendigen Erde im Licht einer mythischen Vision, der wir gemeinsam entgegengehen werden, wenn wir uns dafür entscheiden!  

 

*Hier das Originalzitat: „I used to think the top environmental problems were biodiversity loss, ecosystem collapse and climate change. I thought that with 30 years of good science we could address those problems. But I was wrong, the top environmental problems are selfishness, greed and apathy… and to deal with those we need a spiritual and cultural transformation – and we scientists don’t know how to do that.“

Fachbeitrag von Waltraud Hönes für “Spirit Online”, 2022

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