Sprung über den Abgrund

Die Menschheit steht vor einer großen Initiation – ins Erwachsensein


Lassen sich die Spalten noch einmal zuschütten, die in der Seele der Welt aufgebrochen sind? Wird bald alles wieder gut, und wir können so weitermachen wie vorher? Das glaubt wohl kaum noch jemand. Könnte es sein, dass wir uns zu lange nur auf unser persönliches Wohlbefinden konzentriert und dabei vergessen haben, wie sehr es vom Zustand der Erde mit all ihren Wesen abhängt? Womöglich sind auch viele spirituell Suchende und Bio-Begeisterte in diese Falle getappt.


Seien wir ehrlich: Wir wollten es uns auf der Erde immer bequemer machen. An erster Stelle stand sich wohlzufühlen, das Leben zu genießen, Spaß zu haben. Schinderei und Leiden sollten endlich ein Ende haben. Wir lehnten uns verständlicherweise gegen die Behauptung auf, dass es hier auf dieser Welt nichts anderes gäbe als das, weil wir ja aus dem Paradies geworfen worden seien (was wir höchstens selbst getan haben, indem wir die Erde und unsere Mitwesen schlecht behandelt haben).


Doch wofür ist uns das Leben eigentlich gegeben worden, wozu sind wir wirklich hier? Aus der Sicht meines spirituellen Weges verkörpert sich die Seele, um sich weiterzuentwickeln und als mitschöpfendes Wesen zu reifen. Ihr göttlicher Funke ist wie ein Samenkorn, aus dem eine Blume heranwächst. Wenn sich eines Tages alle Knospen geöffnet haben werden, wird die Weltseele ein blühender Garten sein. Nach Schönheit strebt die Gottheit, die aus purer Liebe ihrem Traum aller Träume in der Schöpfung Ausdruck verleiht.

Den Zweck unserer Anwesenheit auf diesem Planeten scheinen wir weitgehend aus den Augen verloren zu haben. 

Wir müssten schon eine rosarote Brille aufsetzen, wenn wir behaupten wollten, wir seien dem erträumten Zustand schon nahe. Dies umso mehr, wenn wir bedenken, dass wir ihn per Definition nur gemeinsam erreichen können!


Auf einmal dämmert es uns, dass wir mit unserem Lebensstil sehr schnell auf Grenzen stoßen könnten, die mit dem Zustand unserer Mitwesen zu tun haben, menschliche wie nichtmenschliche, sichtbare wie unsichtbare.


Unbestreitbar wird es höchste Zeit für die Menschheit, erwachsen zu werden. Dazu gehört zu lernen, dass andere Menschen-, Tier-, Pflanzen- oder Steinwesen samt der lebendigen Erde selbst nicht einfach dafür da sind, damit es uns gut geht. Die Scheinwelt, die sich viele von uns vorgegaukelt haben, ist beim Zusammenbrechen, und das wird vor niemandem Halt machen, auch nicht vor den Superreichen. Die Risse, die längst schon da waren, sind zu tiefen Spalten geworden und damit sichtbar für (fast) alle. Wenn es überall bröckelt, tut sich irgendwann ein Abgrund auf, und über den kommt man nicht mit kleinen Schritten, sondern nur mit einem beherzten Sprung. Was ihn noch schwieriger macht und besonderen Mut erfordert, ist die Tatsache, dass der Landeplatz höher liegt als die Absprungstelle.

 
Wie schon Albert Einstein feststellte, können Probleme nicht auf der gleichen Bewusstseinsebene gelöst werden, auf der sie geschaffen wurden. 

 
Es handelt sich ganz offensichtlich um den Sprung auf eine höhere und integrativere Bewusstseinsebene, den wir wagen müssen. Auf dieser einmal angekommen, werden wir unsere hochkomplexe Verwobenheit mit allen anderen sichtbaren und unsichtbaren Wesen erkennen und deshalb eine neue Kultur schaffen. Kennzeichnend für sie wäre es, dass sie auf einem wechselseitigen Austausch zwischen allen Beteiligten beruht, deren Beziehungen als heil-ig erkannt werden. Eine Kultur des Miteinander statt des Gegeneinander wäre das, in der wir Menschen unsere Liebesfähigkeit so verwenden würden, dass wir für andere Wesen mitsorgen, statt Profit aus ihnen ziehen zu wollen. Noch einmal: Dazu gehören Tier-, Pflanzen- und Steinwesen und unsichtbare Wesen genauso wie menschliche Wesen.


Es ist auch Zeit zu erkennen, dass wir die Erde nicht besitzen können, sondern für sie sorgen sollen.

 
Damit bin ich bei den Werten, die unser Leben prägen. Zuallererst nämlich müssen wir uns wieder ein ethisches Fundament jenseits von Geld und Besitz geben. Besitzen zu wollen ist ein fundamentaler Drang in unserer Kultur. Sei es ein Haus, ein Auto, Partnerin oder Partner, die eigenen Kinder, ja sogar das Leben selbst wollen wir besitzen. Wir klammern uns ängstlich an das, was wir meinen zu haben, obwohl Pachamama es uns nur vorübergehend zur Verfügung gestellt hat. Alles, was wir von ihr bekommen, ist ein Geschenk für die Zeit unseres Lebens auf ihr. Es wäre Anlass genug, dankbar dafür zu sein und unsererseits sie zu beschenken. Aber ganz im Gegenteil: Wir nehmen mehr von ihr, als sie uns von sich aus überlassen will, und sehen nicht, dass es letztlich zu unserem Schaden ist.  


Generell ist in dieser Zeit die spirituelle Dimension des Menschseins weit in den Hintergrund gerückt. Gleichzeitig ist zu beobachten, wie das Denken allzu oft in starren Schemata gefangen ist, Gefühle wegrationalisiert werden und Seelenwahrheit lächerlich gemacht wird. Sich in andere einzufühlen und ihnen zuzuhören, wird von vielen als Zeitverschwendung angesehen. Eine physische Begegnung ist ein zu großer Aufwand und, was in jüngster Zeit noch hinzugekommen ist, auch noch ein Ansteckungsrisiko; einfacher ist es, digital ein paar kurze Worte oder gar nur Emoticons auszutauschen. Kommunikation wird immer primitiver und seichter. Hauptsache, man hat möglichst viele Kontakte, gleich welcher Qualität. Virtuelle „Freunde“ in den sozialen Medien sind unproblematischer als echte und geben dennoch das Gefühl, nicht allein zu sein. Man kann sich beliebt fühlen als Ersatz dafür, geliebt zu sein.

So befinden wir uns in der paradoxen Situation, technologisch längst zu Übermenschen geworden, moralisch immer noch so unreif zu sein, dass wir stigmatisieren, ausgrenzen, in primitiver Weise Schuld zuweisen, differenzierte Betrachtungsweisen ablehnen, auf festgefahrenen Ansichten beharren (auch wenn sie längst nicht mehr haltbar sind) und im Übrigen hauptsächlich darauf schauen, dass wir möglichst viele Vorteile gegenüber anderen haben.


Der Ruf nach Freiheit wird zu Recht laut, wenn sie in unsinniger Weise eingeschränkt wird: Auch Machtspiele gehören zu dem, was wir moralisch längst überwunden haben sollten. Unsere wahre Freiheit werden wir jedoch nicht finden, solange wir darunter verstehen, auf Kosten anderer Wesen tun und lassen zu können, was wir wollen. Wie kleine Kinder wollen wir alles ausprobieren, auch wenn es gefährlich ist. Und wie Jugendliche wollen wir die Rechte von Erwachsenen haben, aber keine Verantwortung für unsere Taten übernehmen. Doch können die globalen Spielereien eines falsch verstandenen freien Willens unsagbares Leid über unsere Mitwesen und die Erde selbst bringen, ja unsere eigene Lebensgrundlage zerstören. Es wird uns ja im Augenblick tagtäglich vor Augen geführt. Eben deswegen wäre es notwendig, endlich erwachsen zu werden.   

   
Höhere Werte helfen uns zu entscheiden, welche unserer Ideen im Einklang mit der Schönheit des großen Schöpfungstraums sind und welche nicht. 


Durch sie können wir zum einen die potentiell schädlichen Ideen eines unreifen oder gar größenwahnsinnigen Egos als solche erkennen. Und zum anderen schaffen sie die Grundlage dafür, die Kreativität eines geweiteten Selbst so zu nutzen, dass Himmel und Erde für alle näher zusammenrücken.

 
Welche Werte können uns jetzt helfen, damit wir den Sprung schaffen?

 
Auf einige will ich hier eingehen, wobei sicherlich weitere zu nennen wären.


Ein Wert, der im Laufe der letzten Jahrzehnte immer mehr in den Hintergrund gedrängt wurde, ist Gemeinschaftlichkeit. Wenn man die Freiheit des menschlichen Mit-Schöpfens richtig versteht, sind Gemeinschaftssinn und Förderung der persönlichen Entfaltung ganz und gar kein Widerspruch. Dies, weil sich unsere einmaligen Fähigkeiten auf dem Nährboden von Gemeinschaftlichkeit am besten entfalten können, nicht jedoch in einer anonymen Masse, in der wir nur eine Nummer sind. Wir müssen unsere Mitwesen – menschliche wie nichtmenschliche – persönlich kennen, um liebende Fürsorglichkeit für sie spüren zu können.   

Das blinde Mitlaufen mit der Masse, das wir gegenwärtig beobachten können, ist nichts anderes als der Gegenpol zu dem übertriebenen Individualismus, den wir in den letzten Jahrzehnten gepflegt haben. Dieser wiederum war eine Reaktion auf die Massenverhetzung, die wir aus der jüngeren europäischen Vergangenheit kennen und nie mehr erleben wollten. So könnte das Pingpong-Spiel immer weitergehen. Solange wir zwischen zwei Polen hin- und herspringen, haben wir noch keine neue, höhere und umfassendere Ebene erreicht.

Wir sollten uns also besser von der Idee verabschieden, dass es eine Einschränkung unserer persönlichen Freiheit bedeute, etwas gemeinsam zu tun, denn es ist ganz und gar nicht so. Es gibt es uns vielmehr die Möglichkeit, unsere Gaben synergistisch zusammenwirken zu lassen und dadurch etwas viel Schöneres zu kreieren, als wir es alleine tun könnten. Persönliches Heldentum wäre dann nicht mehr so wichtig wie der gemeinsame Zweck, und Konkurrenz hätte nur im Dienste der Kooperation einen Sinn. Allein können wir im Übrigen letzten Endes gar nichts tun, denn wir sind, wie gesagt, ja immer auf zahllose Mitwesen im großen Netz des Lebens angewiesen, um überhaupt leben zu können.

Schönheit ist ein weiterer in den Hintergrund gedrängter hoher Wert und keine Äußerlichkeit. So schwer sich das rational erklären lassen mag, die Seele weiß es, und nur sie kann Schönheit wahrnehmen.

Schönheit ist das höchste ordnende Prinzip der Schöpfung und kann deshalb nur aus Verbundenheit heraus entstehen, niemals aus Trennung.


Und wie ist es mit Beseeltheit als Wert? Ich beobachte mit großer Sorge, wie die Welt zunehmend seelenloser geworden ist. Immer technokratischer, überkontrollierter, utilitaristischer, digitaler, distanzierter, anonymer. Die Betonmauern zwischen uns werden immer höher, Roboter können vieles besser als wir, QR-Codes ersetzen unser Gesicht und stereotype Piepstöne diktieren unseren Lebensrhythmus. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen.

Doch die Seele strebt nach Schönheit und verkümmert, wenn sie verlorengeht. Wollen wir uns wirklich darauf reduzieren, abstrakte Bewusstseinseinheiten zu sein und verleugnen, dass wir beseelte Menschen sind? Als solche sind wir Träger eines Bewusstseins, das eine neue Ebene anpeilt. Also ist es unsere Seele, die den Sprung über den Abgrund schaffen muss, vergessen wir das nicht.


Der Seele wieder einen Platz in der Welt zu geben, ist also möglicher weise das erste, was wir tun müssen. 

 
Sobald sie wieder Nahrung bekommt und tief durchatmen kann, wird sie sich auch wieder darauf besinnen, wonach sie eigentlich strebt. Dann öffnet sich der Weg zu einer Vision davon, was durch unser Mitwirken auf der Erde entstehen soll. Mit einer solchen Vision könnten wir immun gegen die perversen Phantasien von skrupellosen, geld- und machtgierigen Technokraten werden, und das würde uns wieder Hoffnung geben.

In meinem letzten Beitrag bin ich näher auf die Bedeutung einer mythischen Vision für eine lebenswerte Zukunft eingegangen. Man könnte sagen, eine solche Vision ist die Vorahnung davon, wie der Landeplatz auf der anderen Seite des Abgrunds beschaffen sein wird. Wie könnte man den Sprung wagen, wenn man keine Vorstellung davon hätte, was einen auf der anderen Seite erwartet? Wirklich kennen wird man jenen erhöhten Ort jedoch nie können, denn man war ja noch nie dort. Die Vision vermittelt nur so viel, wie notwendig ist, um den Mut für den Sprung aufzubringen.


Um den neuen Ort zu sehen, muss man springen, und die Entscheidung dafür trifft das Herz, sobald es klar genug dafür geworden ist.

Besinnen wir uns also auf spirituelle Werte, bringen wir wieder Seele und dadurch Schönheit in die Welt und werden empfänglich für eine mythische Vision, die uns beherzt springen lässt, nachdem wir in die ganze Tiefe des Abgrunds hinuntergeschaut haben. Dort unten sind die wahren Ursachen unserer Misere zu sehen, unser Missverhältnis mit der lebendigen Erde und ihren Wesen und daher mit Leben und Tod. Ihnen ins Auge zu schauen, ist die Voraussetzung für unsere Heilung und wird unseren Entschluss festigen, jenen Abgrund zu überwinden. So brauchen wir keinen falschen Glücksversprechungen mehr nachrennen, die uns in ihn stürzen lassen. Stattdessen können wir uns ganz darauf konzentrieren, wonach wir uns wirklich sehnen – und dann wird der Sprung gelingen!

Fachbeitrag von Waltraud Hönes für “Spirit Online”, 2022

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Warum wir eine mythische Vision für eine lebenswerte Zukunft brauchen

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