Pilgern über sich selbst hinaus – der lebendigen Erde neu begegnen

Der Begriff „pilgern“ löst sehr unterschiedliche Reaktionen aus. Die einen winken sofort ab, weil das Wort für sie christlich-religiös behaftetet ist, während anderen lebhaftes Interesse zeigen, weil sie ihn mit einem aktuellen psycho-spirituellen Trend in Zusammenhang bringen. Umso schwieriger ist es, meinen Mitmenschen begreiflich zu machen, worum es sich bei jenem anderen Pilgern handelt, das ich anregen will. Ich habe es „Das neue Pilgern“ genannt, weil das zugrundeliegende Konzept in unserer Zeit neuartig ist. Diese Bezeichnung ist aber auch paradox, geht es doch auf die wohl älteste Form des Pilgerns zurück. Werfen wir also zunächst einen Blick auf die Ursprünge des Pilgerns und das Weltbild, aus dem heraus es entstanden ist.

 
Die Ursprünge des Pilgerns: die Welt in Ordnung halten


Pilgern ist viel älter als das Christentum, und auch älter als die anderen großen Weltreligionen; es ist vermutlich so alt wie die Menschheit selbst. Schließlich war die spirituelle Dimension des Menschseins schon bei unseren ältesten Vorfahren voll ausgebildet und prägte ihre Wahrnehmung von der Welt und sich selbst in ihr. Davon zeugen Felsmalereien und Funde von rituellen Gegenständen überall auf der Welt. Vermutlich schenkten sie dem Spirituellen sogar wesentlich mehr Aufmerksamkeit als es „zivilisierte“ Menschen heute tun. Sie wussten, dass eine intakte Beziehung zwischen den Menschen und der unsichtbaren Welt von größter Bedeutung für ein gutes Leben gemeinsam mit den anderen Wesen der sichtbaren Welt war.


Um die Pflege dieser Beziehung ging es beim ursprünglichen Pilgern der damaligen Medizinleute: Sie machten sich auf, um heiligen Orten ihre Gaben zu bringen, was hieß, sie zu nähren. Damit verbunden war eine mehr oder weniger komplexe zeremonielle Handlung mit Gebeten, Gesang und rituellen Gesten. Im Gegenzug erhielten sie Kraft von diesen besonderen Plätzen, um sie zum Wohle der menschlichen Gemeinschaft zu verwenden, wobei sie diese als Teil einer größeren Gemeinschaft von Wesen der Natur und des Kosmos ansahen.


Das Motiv dieses Pilgerns war es also, ihrer Gemeinschaft besser dienen zu können, indem sie die Beziehung mit bestimmten heiligen Orten und den Geistwesen, die sie hüteten, in angemessener Weise pflegten. Es gehörte zur Aufgabe einer Medizinperson, sie regelmäßig aufzusuchen und ihnen Nahrung zu bringen, denn sie wurden als für den Schutz und das Wohlergehen der Gemeinschaft maßgeblich angesehen. Zu ihnen zu pilgern war aus zwei Gründen notwendig: um die Welt in Ordnung zu halten und um ihre Heilkraft zu den Menschen zu bringen. Je mehr sie diese heiligen Orte mit Gaben und Zeremonie stärkten, umso besser konnten sie ihrer Schutzfunktion nachkommen und umso mehr von ihrer Kraft zur Verfügung stellen. Was man in den Anden „Ayni“ nennt, heilige Wechselseitigkeit, war für uns Menschen einst selbstverständlich, ist jedoch heute weitgehend in Vergessenheit geraten.

Bei manchen indigenen Völkern wird diese Art des Pilgerns nach wie vor praktiziert, und ihre heiligen Orte ähneln vermutlich denen unserer Urahnen: Es können Schreine sein, wie zum Beispiel Steinpyramiden, senkrecht aufgestellte längliche Steine oder auch Holzpfähle, die an mythisch bedeutsamen Plätzen in der Landschaft errichtet werden, wie zum Beispiel bei einem See, am Fuße einer Felswand oder auf einem Hügel. Es kann sich aber auch um Naturheiligtümer ohne zusätzliche menschengemachte Bauwerke handeln, wie zum Beispiel heilige Bäume, Quellen oder Felsen.

Heil, Buße und Selbstfindung: Persönliche Motive verändern den Pilgergeist   


Während das Pilgern also ursprünglich nur die Aufgabe von einzelnen Personen innerhalb einer menschlichen Gemeinschaft war, begaben sich allmählich auch andere Menschen auf Pilgerschaft, um Heilung zu suchen beziehungsweise das Wohlwollen von höheren Wesen zu erbitten. Dem heiligen Ort etwas zu bringen, war dabei unerlässlich, damit die heilige Wechselseitigkeit stimmte. Dennoch unterscheidet sich dieses Pilgern bereits klar von dem einer Medizinperson, die in erster Linie die Beziehung der menschlichen Gemeinschaft mit den Geistwesen ihrer Landschaft in Ordnung halten will oder sich dort stärkt, um heilsam wirken zu können, denn nun stehen rein persönliche Motive im Vordergrund.


Nichts könnte weiter von dieser Auffassung entfernt sein als das mittelalterliche Bußpilgern, das ein beschwerlicher Akt der Verzweiflung war, ja die einzige Möglichkeit, der ansonsten unausweichlichen göttlichen Strafe zu entgehen. Die berühmte Pilgerschaft nach Santiago de Compostela war ein Weg ans westliche Ende der Welt, wobei es ungewiss war, ob man je zurückkehren würde.


Die Pilgerschaft auf dem Jakobsweg und anderen Routen hat in jüngster Zeit eine Renaissance erfahren, wobei sich die Motive bei den meisten Pilgern geändert haben. Die Anstrengung des Gehens ist nun ein lustvolles Erlebnis, das neue Erfahrungen mit sich bringt. Manche gehen nach wie vor, um Heilung zu suchen, doch meistens geht es eher darum, sich eine Auszeit zu nehmen beziehungsweise eine Neuorientierung im Leben zu suchen. Es geht also auch hier vorwiegend um den Gewinn für sich selbst.


Alt und neu: Pilgern für unsere Beziehung mit der lebendigen Erde


Was ist nun kennzeichnend für ein tatsächlich neues Pilgern, das seinen ursprünglichen Zweck wiederentdeckt, seinen Geist neu belebt und zeitgemäß weiterführt? Es ist Pilgern für die Erneuerung unserer Beziehung mit der lebendigen Erde samt ihren sichtbaren und unsichtbaren Wesen, mit denen wir wieder in wechselseitigen Austausch treten. Viel zu lange haben wir nur von ihr genommen. Um Ayni wiederherzustellen, ist es nun an der Zeit, ihr etwas zu geben. Dabei ist es wesentlich, dass Liebe für unsere Mutter Erde in uns geweckt wird, der wir mit unserem Geben Ausdruck verleihen. Liebe ist es, was auch kleine Gaben wertvoll macht!


Etwas materiell zu geben ist wichtig, weil es um sie geht, die Mutter der Materie, und weil es uns hilft, unseren Materialismus zu überwinden. Reden wir uns ein, dass rein geistige Gaben ausreichend sind, betrügen wir uns leicht selbst. Es ist etwas anderes, wenn ich vor einem Pilgertag meine Gaben zusammensuche und Geld dafür ausgeben muss: z.B. Räucherkräuter, alkoholische Essenzen, Blüten. Ja, es soll uns etwas kosten, denn dann zeigt es sich, ob wir tatsächlich imstande sind, großzügig und mit Freude zu geben!

Der Schlüssel dazu ist, dass wir uns von der Idee befreien, dass Geben etwas verlieren heißt. Den Gewinn für die größere Gemeinschaft von Wesen zu sehen, der wir selbst angehören, setzt allerdings voraus, dass wir unser Selbstkonzept über unsere Ego-Identität hinaus erweitern. Dann werden wir für die Erde sorgen und aufhören, sogar sie besitzen zu wollen. Das göttlich weibliche Prinzip bekommt wieder seinen Platz in der Welt.

Weil dieses Pilgern im Geist der heiligen Wechselseitigkeit erfolgt, werden wir auch selbst beschenkt werden, oft in unerwarteter Weise. Es geht keineswegs darum, sich aufopfern, sondern freudig zu geben. Das berührt unser Herz uns klärt es. Verabschieden wir uns von unserer Bedürftigkeit und geben aus Liebe, weil es zuallererst unsere Liebe ist, nach der sich Pachamama sehnt, damit sie sich regenerieren und auch transformieren kann! Geben wir ihr diese Liebe, dann wird sie uns ihrerseits alles geben, was wir wirklich brauchen.


Betrachten wir auch die Art des Gehens, die zum Neuen Pilgern gehört. Wir wollen Pachamama mit unseren Schritten streicheln und bereits auf dem Weg zu einem Heiligtum mit den Wesen der Landschaft in Kontakt treten. Diese erweiterte Aufmerksamkeit lässt den Schritt bedächtig werden, damit unser Blick schweifen kann. Bäume, Felsen, Blumen, Berge – nicht nur wir nehmen sie wahr, sondern sie auch uns! Wir bereiten uns dabei bereits auf die Begegnung mit dem besonderen Ort vor, der unser Ziel ist, lassen Alltagsgedanken und Sorgen hinter uns und werden innerlich frei für diese Begegnung. Wir kommen mit weit offenem Herz am heiligen Ort an und erfahren bei seiner „Fütterung“ und der kleinen Zeremonie, die wir dort feiern, wie unser Herz klar und strahlend wird. Wir empfinden Freude darüber, wie das Heiligtum zu leuchten und aufzublühen beginnt und mit jedem Besuch mehr beseelt wird.


Eine neue Pilgerbewegung, die andere Wege geht


Es ist jetzt notwendig, dass viele Menschen auf diese Weise zu pilgern beginnen. Wir alle können Medizin für die Erde werden und uns dabei selbst heilen und unser Bewusstsein erweitern. Wir können mit unserem eigenen göttlichen Funken Schönheit mit-schaffen, wenn wir nicht Alleinherrscher sein wollen.


Mit meiner Gruppe „Dolomiten Ayllu“ habe ich vor 23 Jahren damit begonnen. Inzwischen haben wir im Dolomitengebiet und darüber hinaus ein Netzwerk von weit über hundert Steinschreinen geschaffen, zu denen wir regelmäßig pilgern. So ist ein fein gewobenes Lichtnetz entstanden, das die heiligen Berge ehrt und nährt, und aus dem die Kraft für die planetare Heilungsarbeit kommt, die ich als meine Aufgabe ansehe.


Meine Lehre in der Heilungs- und Weisheitstradition der Anden gab mir die Grundlage dafür und inspirierte mich, das einmalige, stark weiblich geprägte schamanisch-mythische Erbe von Fanes in den Dolomiten wiederzubeleben. Dort hatten sich noch Fragmente eines großen Weltmythos erhalten, an den ich anknüpfen konnte, um an neu geschaffenen Steinschreinen und anderen Naturheiligtümern den Wesen, die in dieser Landschaft beheimatet sind, zu begegnen. Was entstand, ähnelt einer indigenen heiligen Landschaft, in der die große Geschichte von der Welt, den wir den Neuen Mythos von Fanes nennen, zu neuem Leben erwacht ist und weitergeht, denn ein echter Weltmythos spricht vom Ursprung und gibt eine Vision von der Zukunft, und aus beidem leitet sich die angemessene Lebensweise ab.


So entstand Wayna Fanes, der siebenfache Weg des kristallenen Herzens, zu dem das Neue Pilgern sowie die gemeinsame Arbeit mit einer Mesa (Medizinstücke, die auf einem Tuch entsprechend der kosmischen Ordnung angeordnet sind) gehören. Wir haben ein Kraftzentrum geschaffen, von dem eine neue Pilgerbewegung ausgehen kann.


Stellen wir uns nur einmal vor, es kämen mehr und mehr neue Pilger statt dem jährlichen Touristenstrom. Die gesellschaftliche Veränderung, die das bedeuten würde, wäre enorm. Sie würden ihre Liebe mitbringen, weniger Müll zurücklassen und die Zerstörung der Landschaft aufhalten, weil ihnen mehr an ihrer Ursprünglichkeit gelegen wäre als an „touristischen Infrastrukturen“. Sie würden der lebendigen Landschaft tatsächlich begegnen und sie mit ihrer Anwesenheit bereichern! Der Austausch mit ihr wäre wichtiger als Erinnerungsfotos. Es wäre Selbstfindung weit über das Persönliche hinaus.


In meinem Buch „Das neue Pilgern“ habe ich angeregt, dass Menschen auch in der Nähe ihres Wohnortes damit beginnen, kleine heilige Orte zu schaffen, die mit unseren vernetzt werden können. Daraus ergäben sich auch viele neuer Pilgerwege, und ganze Landschaften würden zu ungeahnter Beseeltheit wiedererwachen.


Ich halte auch die Vision von einer großen neuen Pilgerroute, dem Weg der Rückkehr des göttlich weiblichen Bewusstseins in die Welt. In der peruanischen Überlieferung heißt diese weltumspannende Route „Ruta de Wiraqocha“. Sie verläuft von Nordwesten nach Südosten um den ganzen Globus, so auch in Europa. Man könnte sie auch den Weg des kristallenen Herzens nennen, und ich sehe unsere heilige Landschaft als ihr Herzstück an.


Hier, wo die mythische Vision vom unvergleichlich strahlenden Stein, Rayeta genannt, wieder aufgetaucht ist, hat sich auch enthüllt, dass dieser einst von einer großen Göttin auf die Erde gebracht wurde und dann in ihr verschwand, weil die Menschen noch nicht reif für ihn waren. Wenn er wiederkehren wird, wird er aus all unseren kristallklar gewordenen Herzen funkeln und die Welt beleuchten. Mit unseren Gaben an heiligen Orten klären wir nicht nur unser eigenes Herz, sondern füttern auch ihn, tief unten in der Erde, wo er noch weiter heranwächst. Erst wenn das Herz einer kritischen Zahl von Menschen klar genug geworden ist, wird er in diese Welt zurückkehren können: Wir müssen zuerst unsere Selbstsucht überwunden haben und uns im kristallenen Herzen wiederbegegnet sein, damit es geschehen kann.

Ein echter Paradigmenwechsel im modernen Pilgern könnte einen Stein ins Rollen bringen, um unsere Beziehung sowohl mit der Erde als auch dem Himmel in Ordnung zu bringen. Liebe und Fürsorge für unsere Erde würden auch unsere Maßnahmen für Klimaschutz und „Nachhaltigkeit“ verändern, in denen nach wie vor der überholte Geist des Profits auf Kosten anderer weiterlebt. Es führt kein Weg daran vorbei: Nur die Besinnung auf Geist und Herz – das kristallene Herz – wird uns tatsächlich in ein neues, heilvolleres Zeitalter führen!

Fachbeitrag von Waltraud Hönes für die Zeitschrift “Mystikum”, 2024

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