Der Wind als Bote
„Erlebnis Berg – Zeit zum Atmen“ betitelte einst der Fotograf und Bergsteiger Reinhard Karl sein erstes Buch. Diese Worte kamen mir spontan in den Sinn, als ich auf einem Wanderweg in den Dolomiten Touristen antraf, die eine Atemschutzmaske trugen und um Luft rangen. Wahrlich atemberaubend ihre Erfahrung, doch nicht wegen der Schönheit der Landschaft, die sie kaum wahrzunehmen schienen.
Wenn ich mir aus schamanischer Sicht betrachte, in welche Situation wir uns durch die sogenannte Corona-Krise gebracht haben, dann fällt mir als erstes auf, dass wir – eine Kultur, die größtenteils die Existenz einer unsichtbaren Welt bestreitet – jetzt aus Angst vor etwas Unsichtbarem der Luft, selbst Inbegriff des Unsichtbaren, misstrauen. Wir, die wir dabei sind, die grüne Lunge des Planeten zu vernichten und die Erdatmosphäre irreversibel zu schädigen, nehmen uns aus Angst vor einer Lungenkrankheit selbst die Luft. Ist das nicht irgendwie ironisch? Ist es vielleicht nicht von ungefähr, dass es genau eine Atemwegserkrankung ist, die uns kollektiv so aus der Bahn wirft?
Doch werfen wir einen genaueren Blick auf die Bedeutung des Luft- oder Windelementes. In Kulturen, die von der Belebtheit und Beseeltheit des ganzen Kosmos ausgehen, ist es auch mit Geist assoziiert, der ja unsichtbar ist und doch die Welt durchdringt. Wind hat zumeist die Funktion eines Boten innerhalb und zwischen den Welten; daher auch die Bedeutung des Rauches, der durch Feuer transformierte Gaben der Geistwelt übermittelt. Sehr wohl ist es bekannt, dass der Wind auch Schädliches bringen kann, was man an seiner „unguten“ Qualität oder an seinem Geruch erkennen kann. Und dann kann er auch einen neuen Geist bringen, indem er aufrüttelt und damit hilft abzuschütteln, was nur ein illusionäres Gewand war, mit dem wir unser wahres Selbst verhüllt haben.
Nach dem Verständnis meiner Tradition fließt schon seit längerer Zeit die große Kraft des Pachakuti, der Weltumkehr, über den Nordwestwind in diese Welt ein. Es ist der Geist des göttlich Weiblichen, der eine neue Weltordnung des Miteinanders von Menschen und Erde bringen wird, wenn wir uns nur von ihm transformieren lassen. Stellen wir uns jedoch gegen ihn, indem wir so weitermachen wie bisher und das Problem damit lösen wollen, dass wir uns einfach eine Maske aufsetzen, dann wird uns wahrlich die Luft wegbleiben. Doch es ist die Luft, die den Geist in uns zirkulieren lässt und uns miteinander verbindet, denn alle Wesen auf der Erde atmen die gleiche Luft.
Mit Munay*,
Waltraud Hönes
(Gründerin der Wayna Fanes- Tradition)
*Munay (Quechua): Bedingungslose Liebe, eigentlich: Liebender Wille
Newsletter "Neues aus Wayna Fanes" 2-2020